Wer den Norden verstehen will, muss an die Weser. Und wer die maritime Geschichte Bremens wirklich begreifen möchte, kommt um Vegesack nicht herum. Die Maritime Meile ist ein außergewöhnliches Stück Küstenkultur: 1.852 Meter, exakt eine Seemeile, die sich durch einen Stadtteil ziehen, der vom Schiffbau, Handel, Walfang, Fischerei und Erfindergeist so geprägt wurde wie kaum ein anderer Ort im Land. Hier spürt man nicht nur Geschichte – man läuft mitten hindurch. Jede Kurve des Weges atmet Geschichten von Menschen, die anpackten, Neues wagten und eine ganze Region formten.
Die Maritime Meile verbindet historische Orte, Werftgelände, Museen, Denkmäler und Natur zu einem lebendigen Erlebnispfad. Sie ist kein Museum auf samtenen Teppichen, sondern ein authentisches Stück norddeutscher Wirklichkeit: rau, echt, voller Herz und voller Geschichten, die noch heute nachhallen. Und sie ist ein Ort, an dem die Vergangenheit nicht stehengeblieben ist. Viele Spuren der alten Werften leben in heutigen Unternehmen und beeindruckenden Yachten weiter.
Der Vegesacker Hafen – Herzstück einer langen maritimen Vergangenheit
Im Jahr 1622/23 wurde der Vegesacker Hafen angelegt – und damit der erste künstliche Hafen Deutschlands. Er war viele Jahrzehnte lang Bremens Überseehafen, lange bevor in Bremerhaven die großen Einrichtungen entstanden. Die Waren wurden von Vegesack aus mit flachgehenden Kahnschiffen über die Weser nach Bremen transportiert. Diese clevere Lösung war für die Handelsstadt von entscheidender Bedeutung und machte Vegesack früh zu einem unverzichtbaren Knotenpunkt für den überregionalen Warenaustausch.
Zwischen 1653 und 1872 war Vegesack außerdem Heimathafen der Bremer Walfangflotte. Die Spuren dieser Ära sind bis heute sicht- und fühlbar. Am Utkiek steht ein imposanter Walkiefer als Erinnerung an die abenteuerliche, riskante und oft tragische Zeit des Walfangs. Die markante Walfluke am Fähranleger, der bronzene Wal in der Einkaufszone und die Exponate im Schloss Schönebeck – darunter originale Harpunen – machen diese Epoche lebendig.
Doch damit endete die maritime Bedeutung nicht. Ab dem späten 19. Jahrhundert entwickelte sich der Vegesacker Hafen zum Zentrum der Heringsfischerei. Zwischen 1895 und 1967 war hier die größte Heringsfischereiflotte des europäischen Kontinents beheimatet. Die tägliche Ausfahrt der Fischer, das Klappern der Netze, die aus dem Nebel auftauchenden Rückkehrer – all das war für Generationen Teil des Lebensrhythmus in Vegesack.

Der Museumshafen Vegesack – schwimmende Kapitel einer stolzen Geschichte
Heute beherbergt der historische Hafen den Museumshafen Vegesack, in dem zahlreiche traditionelle Schiffe liegen, die sorgfältig restauriert wurden und die maritime Vergangenheit direkt erlebbar machen. Der Nachbau eines historischen Weserkahns, die „Franzius“, erinnert an die frühen Transportwege zwischen Vegesack und Bremen. Der erste Heringslogger, die BV2 „Vegesack“, sowie der erste Versuchskreuzer der DGzRS erzählen von Fischerei, Schiffbau und Seenotrettung. Die BV2 ist bis heute erhalten und fährt im Sommer regelmäßig auf der Ostsee. Der Museumshafen ist kein steriles Ausstellungsgelände, sondern ein lebendiger Ort. Hier trifft man Vereinsmitglieder, die an Bord arbeiten, Holz nachkalefatern, Taue erneuern und dafür sorgen, dass die alten Schiffe noch viele Jahre erhalten bleiben.
Schiffbau in Vegesack – Wie ein Stadtteil zum Motor des deutschen Schiffbaus wurde
Die Maritime Meile zeigt nicht nur die Ergebnisse des Schiffbaus, sondern führt mitten hinein in seine Ursprünge. Vegesack war im 18. und 19. Jahrhundert eines der wichtigsten Schiffbauzentren Deutschlands. Die Wurzeln reichen bis 1770 zurück, als Johann Jantzen die erste größere Werft der Region gründete. Später wurde daraus die Sager-Werft, die über Jahrzehnte hinweg zahlreiche Schiffe baute. Bemerkenswert ist, dass sich auf genau diesem Werftgelände später – im Jahr 1898 – die bekannte Strandlust erheben sollte.
In eben jener Jantzen- und späteren Sager-Werft lernte Johann Lange das Handwerk, das die Region für immer verändern sollte. 1804 gründete er seine eigene Werft am Havenhöft. Die Lange-Werft entwickelte sich rasch zur bedeutendsten Werft Vegesacks. Lange war nicht nur Unternehmer – er war ein Pionier. Unter seiner Führung entstand 1817 das erste tatsächlich in Betrieb befindliche Dampfschiff Deutschlands, die Weser. Dieser Schritt markierte den Beginn einer neuen Ära im Schiffbau.
Doch Lange war nicht allein verantwortlich für diesen Erfolg. Eine tragende Rolle spielte seine Ehefrau Anna Lange, geb. Raschen, die aus einer Schiffbauerfamilie stammte. Die Raschens betrieben an der Lesum eine eigene Werft, die Raschens Werft, die 1841 allerdings aufgegeben wurde. Viele Mitglieder der Familie wechselten daraufhin zur Lange-Werft. Anna Lange brachte kaufmännisches Talent, Erfahrung und Mut ein – und prägte den Betrieb entscheidend mit.
Ein weiterer Meilenstein folgte 1847: die Uhlandt. Dieses Schiff war damals das größte Schiff der bremischen Handelsflotte. Benannt nach dem Dichter Ludwig Uhland, stand es für republikanische Gesinnung und Freiheitsgedanken – und kündete davon, dass Schiffbau in Vegesack nie nur Handwerk, sondern immer auch Ausdruck von Haltung war.
Ulrichs, Aumund und der Bremer Vulkan – der Aufstieg zur Großwerft
Am nördlichen Ende der Maritimen Meile entstand 1838 der Schiffbaubetrieb Ulrichs. Das Gelände in Aumund entwickelte sich schnell weiter und wurde später zum Schauplatz einer der bedeutendsten Werftgeschichten Deutschlands. 1893 ging aus der Lange-Werft der Bremer Vulkan hervor – eine Großwerft, die über Jahrzehnte hinweg die maritime Industrielandschaft Norddeutschlands prägte. Bereits 1895 zog die Vulkan-Werft auf das größere Ulrichs-Gelände um und baute dort Schiffe aller Kategorien: Frachter, Fischereifahrzeuge, Passagierschiffe und später auch moderne Containerschiffe.
Noch heute ist die maritime Industrie auf diesen Flächen lebendig. Lürssen, weltbekannt für den Bau von Luxusschiffen, nutzt große Teile des ehemaligen Vulkan-Geländes für seinen modernen Werftbetrieb. Und auf der gegenüberliegenden Weserseite, in Lemwerder, betreibt Lürssen ein weiteres großes Gelände, auf dem regelmäßig beeindruckende Yachten zu sehen sind, die zeigen, dass die Tradition des Schiffbaus in Vegesack nicht Nostalgie, sondern Gegenwart ist.
Geschichtenhaus und historischer Speicher – ein lebendiger Blick zurück
Auf dem ehemaligen Gelände der Lange-Werft steht der historische Hafenspeicher, einer der ältesten Speicherbauten Bremens. Heute beherbergt er das Vegesacker Geschichtenhaus, eine einzigartige Mischung aus Theater, Museum und begehbarer Erzählung. Hier begegnet man Darstellerinnen und Darstellern in historischen Rollen, die den Alltag von Werftarbeitern, Walfängern, Heringsfischern, Hafenarbeitern und Kaufleuten lebendig werden lassen. Das Geschichtenhaus ist ein emotionaler Zugang zur Vergangenheit – authentisch, nahbar und eindrucksvoll gespielt.

Utkiek, Promenade und Stadtgarten – die atmende Wasserkante
Der Utkiek ist einer der atmosphärisch dichtesten Orte der Meile. Hier standen einst die Frauen der Walfänger, blickten auf die Weser hinaus, hofften auf die sichere Rückkehr der Männer und bangten zugleich um ihr Leben. Heute ist der Utkiek ein beliebter Aussichtspunkt, an dem Möwen kreisen und die Weser breit und ruhig vorbeizieht.
Von dort führt der Weg weiter durch den Stadtgarten Vegesack, der mit seinen alten Kapitänsvillen, mächtigen Bäumen und verschlungenen Wegen eine romantische, fast poetische Stimmung erzeugt. Die Mischung aus Parklandschaft und maritimer Umgebung macht diesen Abschnitt zu einem der schönsten in Bremen-Nord. Die Weserpromenade lädt zum Flanieren ein – und wer einen Blick hinüber nach Lemwerder wirft, sieht nicht selten die mächtigen Yachten der Lürssen-Werft.
Schloss Schönebeck – der letzte Adelssitz Bremens und Schatzkammer des Nordens
Entlang der Aue landeinwärts liegt das eindrucksvolle Schloss Schönebeck, der letzte erhaltene Adelssitz Bremens. Heute beherbergt es das Heimatmuseum des Bremer Nordens und öffnet ein Fenster in die Vergangenheit der Region. Die Ausstellungen erzählen vom Walfang, von Schifffahrt und Handel, von Fischerei, Werftarbeit und der einst blühenden Keramikindustrie, die stark vom Fluss profitierte. Das Schloss liegt idyllisch in der „Bremer Schweiz“, und allein der Spaziergang dorthin macht die maritime Landschaft des Nordens spürbar.
Eine Seemeile wie keine andere
Die Maritime Meile ist ein Ort, an dem sich Vergangenheit und Gegenwart die Hand reichen. Sie verbindet Industriekultur, Natur, Geschichte und moderne maritime Wirtschaft zu einem Gesamtbild, das es so nur in Vegesack gibt. Wer hier entlanggeht, wandert nicht nur durch einen Stadtteil – man wandert durch Jahrhunderte, durch Erfindergeist, Mut, harte Arbeit und maritimen Stolz.
Sie ist ein Ort, der nicht einfach besichtigt wird. Sie wird erlebt. Und sie bleibt im Herzen – so wie die Geschichten der Menschen, die sie geprägt haben.




